Sonntag, 9. Oktober 2022

Selbstvertrauen: Die Lösung für alle Probleme?



Selbstvertrauen ist in Mode. Und gilt als Lösung für alle Probleme. Doch Soziologen warnen vor der Gefahr.

 

Heutzutage wird uns gesagt, wir sollen positiv und selbstbewusst sein. Selbstvertrauen wird als die Lösung für so ziemlich alles präsentiert. Ihr Leben funktioniert nicht? Dann ist es Ihre eigene Schuld. In dem Buch „Confidence Culture“ zeigen zwei Soziologinnen, warum die Aufforderung, ständig selbstbewusst zu sein, schädlich ist.

Heute schon gepostet?

Haben Sie sich heute schon von Ihrer verletzlichen Seite gezeigt? Haben Sie schon gesagt – nein, warten Sie, nicht gesagt … Haben Sie in den sozialen Medien gepostet, so dass Hunderte, Tausende von Menschen, die Sie noch nie getroffen haben, es lesen können: wie schwierig Sie das Leben finden, wie sehr Sie an sich selbst zweifeln und so oft Angst haben, sich zu verraten? Dass Sie niedergeschlagen, verwirrt, krank sind, sowohl geistig wie körperlich? Dass Sie Schmerzen leiden und mit sich ringen?

Es könnte durch aus sein, denn Menschen posten solche Informationen heutzutage oft, es ist normal geworden. Menschen ermutigen sich auch gegenseitig dazu: Verletzlichkeiten sollen öffentlich gezeigt und angenommen werden.

Besonders für Frauen und Minderheiten scheint diese Norm zu gelten. Und seltsamerweise ist diese Norm laut zwei Londoner Professorinnen Teil von etwas, was auf den ersten Blick das Gegenteil zu sein scheint: das Gebot, selbstbewusst zu sein. An sich selbst zu glauben, sich so zu lieben, „wie man ist“ (als ob es eine andere Möglichkeit gäbe). Diese Botschaft durchdringt heute unsere gesamte Gesellschaft – wird am Arbeitsplatz, in Beziehungen, bei der Kindererziehung verlangt – und sie wird selten in Frage gestellt. In ihrem neuen Buch „Confidence Culture“ setzen sich die Autorinnen Shani Orgad und Rosalind Gill kritisch damit auseinander.

Selbstvertrauen als Kult

Sie betonen, dass sie nicht gegen Selbstvertrauen sind. Sie sind jedoch der Meinung, dass vor allem Frauen so sehr mit der Aufforderung bombardiert werden, Selbstvertrauen zu haben und sich selbst zu lieben, dass dies wie ein Glaubensbekenntnis erscheint. Die Buchautoren sprechen daher auch von einem Vertrauenskult, der sektenartigen Verehrung des Selbstvertrauens.

Die beiden Soziologinnen haben jahrelang Beispiele gesammelt und beobachten es nun überall. Wenn Frauen und Minderheiten keine Spitzenpositionen im Berufsleben erreichen können, sollten sie mit mehr Selbstbewusstsein auftreten: Lean in (zu deutsch: sich reinhängen), nannte es Facebook-Chefin Sheryl Sandberg 2013 in ihrem gleichnamigen Bestseller. Fühlen sich Frauen in ihrem Körper unwohl, entwickeln sie eine Essstörung? Body positivity, eine positive Einstellung zu ihrem Körper ist die Lösung. Ist das Sexleben einer Frau verbesserungswürdig, scheitern ihre Dates immer wieder? Denken Sie daran: Selbstvertrauen ist das neue Sexy! Sowieso müssen Frauen aufhören, sich ständig zu entschuldigen. Und Mütter haben eine besonders große Verpflichtung, selbstbewusst zu sein, denn nur so können sie ihre Kinder, insbesondere ihre Töchter, zu belastbaren, selbstbewussten Menschen erziehen.

 

Das Problem ist laut den Orgad und Gill, dass dieses Dogma des Selbstvertrauens den Menschen die gesamte Verantwortung für ihr Lebensglück aufbürdet. Frauen müssen ständig darauf achten, wie sie sich verhalten, ob ihre Körpersprache genug Mut und Courage ausstrahlt. Sie müssen ihre Gefühle überwachen: nicht in Trübsal und Opferhaltung hängenbleiben, sondern unerschrocken optimistisch sein, und dankbar für das, was gut läuft. Tatsächlich müssen sie sich selbst fortwährend korrigieren: Sie sind noch nicht gut genug, können aber bessere Menschen werden, wenn sie nur hart genug an sich arbeiten. Und diese Arbeit ist nie beendet.

Jeder ist ein Coach

Es geht allerdings in der „Selbstvertrauenskultur“ völlig unter, dass es logisch ist, dass jemand aus einer Gruppe, die von der Gesellschaft weniger geachtet wird, weniger Selbstvertrauen hat, und dass sich auch die Gesellschaft verändern muss. Die Buchautorinnen machen dafür einerseits die Psychologisierung der westlichen Gesellschaft verantwortlich - in der inzwischen fast jeder einen Coach oder Therapeuten kennt, hat oder ist – und andererseits die Betonung von Ehrgeiz, Wettbewerb und freiem Markt, der alles in Ordnung bringen müsste, es aber nicht tut.

Im Gegenteil, der Markt nutzt geradezu begierig die Forderung des Selbstvertrauenkultes. Denn Selbstvertrauen ist käuflich: in Kursen für Belastbarkeit oder Persönlichkeitsentwicklung, oder (praktischerweise) in Töpfen, Gläsern und Flaschen. Doch während Werbetreibende versichern, dass man sich durch ihr Shampoo oder Deodorant stärker fühlen kann, verdienen Frauen für die gleiche Arbeit immer noch weniger als Männer, und die absurden Schönheitsanforderungen an Frauen bleiben bestehen. Googeln Sie einfach mal: „Bikini Bridge“, „Hot Dog Legs“, „Thigh Gap“, „Thigh Brow“, „Underboob“. All diesen körperlichen Anforderungen muss man als Frau heute eigentlich gerecht werden, und die neuen psychologischen Anforderungen, sich selbst und seinen Körper zu lieben, kommen nun noch dazu.

 

Das schmerzhafteste Kapitel in Orgads und Gills Buch handelt von Entwicklungshilfe. Es beschreibt, wie sogar Entwicklungshilfekampagnen für Mädchen in südlichen Entwicklungsländern so dargestellt werden, als würden sie diesen Frauen und Mädchen Selbstvertrauen geben – als ob Selbstvertrauen, Girl Power, das Einzige wäre, was diese Mädchen und Frauen brauchen, und es weiter nichts gibt, was sie daran hindert, zum Beispiel Zugang zu Bildung zu bekommen.

Armut, Krankheit, Rassismus, Sexismus, Machtgefälle: Der Selbstvertrauenskult gleicht all das aus, in dem nicht darüber gesprochen wird. Und sucht die Lösung all unserer Probleme in einem achtsamen Leben, Dankbarkeit, tiefer Bauchatmung, gesunder Ernährung, gutem Schlaf, Meditation, Morgenroutine, aufrechtem Sitzen am Konferenztisch, den Wunsch aufgeben, von jedem gemocht zu werden, Belastbarkeit und Selbstliebe üben lautet die Devise – das alles mit oder ohne Hilfe von Coaches oder Apps. Nur wenn man diesen Strategien folgt, so die Botschaft, kann man glänzen und erfolgreich sein und „Chef des eigenen Erfolgs“ werden.

Verletzlichkeit als Chance zum Wachsen

Seine Verletzlichkeit zu zeigen, gehört laut den Buchautorinnen dazu, denn damit macht man deutlich, dass man tatsächlich auf dem Weg ist und dass es nicht leicht ist. Das deutlich zu machen, ist übrigens eine Leistung, darum geschieht es auch in den sozialen Medien: Man muss sich nämlich kontrolliert und ordentlich und abgesichert verletzlich zeigen. Es darf nicht zu viel und zu dramatisch werden. Verletzlichkeit zeigen wird gut gefunden, aber nur, wenn es „gut gemacht“ wird.

 

Sie müssen jedoch zeigen, dass Sie die negativen Gefühle, die Sie auf Ihrem Weg erleben, als Chance zum „Wachsen“ sehen. So leben es schließlich sehr mächtige, reiche oder berühmte Frauen vor. Wie Michelle Obama, Melinda Gates und Emma Watson, die sehr offen über ihr Impostor-Syndrom gesprochen haben: die irrationale Angst, dass die Leute entdecken, dass man eigentlich wenig kann, viel vorspielt und genau genommen nur Glück hatte.

 

Ihre Verletzlichkeit zu zeigen, ist eine Art von Geschichtenerzählen mit Ihnen als Held in der einfachsten, universellen Basisgeschichte: Der Held gerät in Schwierigkeiten, überwindet die Hindernisse und geht gestärkt aus der Situation heraus. Die Norm, verletzlich zu sein, verstärkt die Verpflichtung, nach innen zu schauen und sich selbst zu verbessern, und damit den ganzen Selbstvertrauenskult.

Wenn man einmal davon gehört hat, sieht man überall Beispiele, die zum Selbstvertrauenskult passen. Vor allem in den sozialen Medien und in der Werbung für Kleidung und Make-up, versteht sich. Aber auch eine Versicherungsgesellschaft, die mitteilt: „Wir helfen Menschen, selbstständig zu sein. Damit sie ihr Leben aus eigener Kraft gestalten können“. Oder Pflegeorganisationen, die sich nach eigenen Aussagen zum Ziel gesetzt haben, den Menschen zu helfen, mit so wenig Pflege wie möglich auszukommen. Das ist natürlich eine gute Sache. Aber es ist auch unangenehm. Es muss ein soziales Fangnetz übrig bleiben. Nicht jeder kommt alleine zurecht. Niemand hat vollständige Kontrolle über sein Leben.

Das neue System

Doch je mehr der Selbstvertrauenskult in Mode kommt, desto mehr wird das soziale Fangnetz unmodern. Der Ruf, an sich selbst zu glauben und sich selbst zu lieben, scheint „gegen das System“ zu sein, schreiben Orgad und Gill, als ob Frauen, die selbstbewusst sind, „die Regeln brechen“, aber in Wirklichkeit ist der Selbstvertrauenskult das neue System geworden.

 

Es ist schwierig, innerhalb dieses Systems an etwas anderes zu denken. Orgad und Gill schreiben auch, dass ihre Gefühle gegenüber dem Selbstvertrauenskult manchmal widersprüchlich sind. Sollten Sie denn nicht danach streben, selbstbewusst zu sein? Und sollte man nie zeigen, dass man unglücklich ist, wenn es anderen Menschen doch helfen könnte, sich weniger alleine zu fühlen? Das ist natürlich Unsinn. Natürlich sind diese Dinge erlaubt. Aber vielleicht muss man es einfach anders machen: ehrlicher, weniger angepasst an eine Standardgeschichte mit Happy End, weniger Show.

 

Als inspirierendes Beispiel führen die Buchautorinnen die amerikanische Sängerin Lizzo an, die nicht dem immer noch geltenden westlichen Schönheitsideal entspricht und in einem Interview sagte: „Selbst wenn Body Positivity wieder vorbei ist, werde ich immer noch keine dünne weiße Frau werden. Selbst dann bin ich immer noch schwarz und dick.“ Erwarten, dass Menschen „sich einfach blind lieben“, bezeichnete Lizzo als „Fakeliebe“: „Ich versuche herauszufinden, wie ich die Liebe wirklich leben muss.“

 

Und sowieso müssen wir natürlich im Hinterkopf behalten: Wenn Frauen und Menschen aus anderen benachteiligten Gruppen ihr Bestes geben müssen, um sich selbst zu verbessern, und die Gesellschaft nicht, dann stimmt etwas nicht.

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